Bundesinnenminister Thomas de Maiziere hat einen zehn Punkte umfassenden Katalog zur Skizzierung einer deutschen Leitkultur"[1]veröffentlicht. „Ich will mit diesen Thesen zu einer Diskussion einladen", schrieb der CDU-Politiker in der Bild am Sonntag. Es gehe dabei um eine Richtschnur für das Zusammenleben in Deutschland. Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark." Es gebe über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus Dinge, die die Deutschen im Innersten zusammenhielten, sie ausmachten und sie von anderen unterschieden.
Der Innenminister listet in dem Beitrag zehn Aspekte auf, die jeweils ein bis zwei Absätze umfassen.
De Maiziere wirft auch die Frage auf, was mit jenen Menschen passieren solle, die nach Deutschland gekommen seien und eine Bleibeperspektive hätten, eine solche Leitkultur aber ablehnten. "Bei denen wird die Integration wohl kaum gelingen", schreibt der Innenminister. Im Umgang mit diesen Menschen solle man sich dann von der Unterscheidung zwischen dem Unverhandelbaren und dem Aushaltbaren leiten lassen.
Der Beitrag im Wortlaut
Leitkultur fürDeutschland - was ist das eigentlich?
Wer sind wir? Und wer wollen wir sein? Als Gesellschaft. Als Nation. Die Fragen sind leicht gestellt, die Antworten schwer: Neil MacGregor versucht sie in seinen "Erinnerungen einer Nation" auf über 600 und Dieter Borchmeyer in "Was ist deutsch?" gar auf über 1000 Buchseiten.
Einige Dinge sind klar. Sie sind auch unstreitig: Wir achten die Grundrechte und das Grundgesetz. Über allem steht die Wah rung der Menschenwürde. Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat. Wir sprechen dieselbe Sprache, unsere Amtssprache ist Deutsch. Für all das haben wir ein Wort: Verfassungspatriotismus. Ein gutes Wort. Aber ist das alles? Demokratie, Achtung der Verfassung und Menschenwürde gelten in allen westlichen Gesellschaften.
http:// www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziere-innenminister-leitkultur/komplettansicht
Ich meine: Es gibt noch mehr. Es gibt so etwas wie eine "Leitkultur für Deutschland". Manche stoßen sich schon an dem Be griff der "Leitkultur". Das hat zu tun mit einer Debatte vor vielen Jahren. Man kann das auch anders formulieren. Zum Bei spiel so: Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet.
Ich finde den Begriff "Leitkultur" gut und möchte an ihm festhalten. Denn er hat zwei Wortbestandteile. Zunächst das Wort Kultur. Das zeigt, worum es geht, nämlich nicht um Rechtsregeln, sondern ungeschriebene Regeln unseres Zusammenlebens. Und das Wort "leiten" ist etwas anderes als vorschreiben oder verpflichten. Vielmehr geht es um das, was uns leitet, was uns wichtig ist, was Richtschnur ist. Eine solche Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland, das ist das, was ich unter Leitkultur fasse.
Wer ist "wir"? Wer gehört dazu? Auch diese Frage wird oft gestellt und viel diskutiert. Für mich ist die Antwort klar: Wir - das sind zunächst einmal die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Nicht jeder, der sich für eine gewisse Zeit in unserem Land aufhält, wird Teil unseres Landes. In unserem Land gibt es darüber hinaus viele Menschen, die seit langer Zeit hier leben, ohne Staatsbürger zu sein - auch sie gehören zu unserem Land. Wenn ich aber von "wir" spreche, dann meine ich zu erst und zunächst die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unseres Landes.
Wenn wir eine Leitkultur für Deutschland beschreiben, sind wir den Bedenken einer undifferenzierten Verallgemeinerung ausgesetzt. Wer Grundsätze benennt, muss sich die Ausnahmen vorhalten lassen. Das ist so. Und es stimmt: Es gibt viele Un terschiede in unserem Land. Aber wer will bestreiten, dass es hier erprobte und weiterzugebende Lebensgewohnheiten gibt, die es wert sind, erhalten zu werden? Wohl kaum jemand. Überzeugungen und Lebensgewohnheiten hat auch kein Land nur für sich allein. Was in Deutschland gilt, kann genauso in Frankreich gelten. Umgekehrt ist auch richtig: Andere Länder, ande re Sitten. Wenn eine Lebensgewohnheit im Ausland anders ist, ist sie eben anders als in Deutschland, nicht besser oder schlechter. Es ist die Mischung, die ein Land einzigartig macht und die letztlich als Kultur bezeichnet werden kann. Und ist es nicht auch genau das, was wir suchen, wenn wir reisen - die Kultur des dann anderen Landes; das Erfahren eines anderen Kulturkreises, der uns den eigenen dann auch immer wieder bewusst macht?
Ich will mit einigen Thesen zu einer Diskussion einladen über eine Leitkultur für Deutschland.
Was folgt nun aus dieser Aufzählung? Manches mag fehlen, anderes kann hinzukommen. Ist das ein Bildungskanon, den alle wissen und lernen müssen, zum Beispiel in den 100 Stunden der Orientierung in unserem Integrationskurs? Schön wär's.
Kann eine Leitkultur vorgeschrieben werden? Ist sie verbindlich? Nein. Wie der Name Kultur schon sagt, geht es hier nicht um vorgeschriebene Regeln. Die Leitkultur prägt und soll prägen. Sie kann und soll vermittelt werden.
Leitkultur kann und soll vor allem vorgelebt werden. Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark. Stärke und innere Sicher heit der eigenen Kultur führt zu Toleranz gegenüber anderen. Leitkultur ist also zunächst und vor allem das, was uns aus macht. Wenn sie uns im besten Sinne des Wortes leitet, dann wird sie ihre prägende Wirkung auf andere entfalten. Auch auf die, die zu uns kommen und bleiben dürfen. Ihnen reichen wir unsere ausgestreckte Hand.
Was aber geschieht nun mit denjenigen, die zu uns gekommen sind, die hier eine Bleibeperspektive haben, die dennoch aber eine solche Leitkultur weder kennen, vielleicht nicht kennen wollen oder gar ablehnen? Bei denen wird die Integration wohl kaum gelingen. Denn zugehörig werden sie sich nicht fühlen ohne Kenntnis und jedenfalls Achtung unserer Leitkultur.
In unserem Umgang mit diesen Menschen sollte uns eine Unterscheidung leiten: Die Unterscheidung zwischen dem Unver handelbaren und dem Aushaltbaren. Das Unverhandelbare werden wir nicht aufgeben, wir müssen auf dessen Einhalten be stehen. Dazu gehören neben den Forderungen nach Straflosigkeit und Achtung unserer Grundwerte auch die Einhaltung von Respekt im Miteinander und die Herrschaft des Rechts vor der Religion. Wir bleiben - unverhandelbar - Teil des Westens, stolze Europäer und aufgeklärte Patrioten. Vor allem die Menschenwürde ist für uns unverhandelbar, auch im Umgang der Menschen untereinander.
Aushalten müssen wir dagegen sicher einiges. Das lässt unsere Toleranz auch zu. Wenn wir aber darauf achten, dass wir uns unserer Leitkultur bewusst sind und sie vorleben, dann wissen wir um die Stärke dieser Leitkultur, können einiges aushalten und müssen weniger aushalten, je überzeugender unsere Leitkultur wirkt. Wenn wir uns klar darüber sind, was uns aus macht, was unsere Leitkultur ist, wer wir sind und wer wir sein wollen, wird der Zusammenhalt stabil bleiben, dann wird auch Integration gelingen - heute und in Zukunft.
[1] [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/cdu-csu-sachsen-leitkultur-patriotismus]